Europa – neu gedacht

1.    Was Europa (uns) bedeutet

Die zerrissene Einheit

Ach Europa!“ titelt ein Buch von Hans Magnus Enzensberger, dass er etwas ein halbes Jahrhundert nach Ende der letzten großen Katastrophe der Europäischen Zivilisation geschrieben hatte. Seine Diagnose des „Paradox Europa“ lautet: “Die Irregularität, der Wirrwarr macht die Stärke Europas aus. Die Einheit des Kontinents, so wie sie in der Logik der Konzerne, der Parteien, der Bürokratien verstanden wird, nämlich als Projekt der Homogenisierung, erweist sich als Chimäre. Europa ist als -Block- undenkbar.“

Das war sein nachsichtiger Blick in das Innenleben der Europäer. In einem fiktiven, um 19 Jahre in die Zukunft projizierten Interview mit dem ebenso fiktiven US-Botschafter Murphy in Bonn lässt er den Ich-Erzähler in der Rolle eines Amerikanischen Ex-GI und Journalisten ein weniger freundliches Bild im Außenblick zeichnen: “Die Europäische Gemeinschaft? Hören Sie auf, Murphy! Sie tun so, als hätten wir es mit einem Weltreich zu tun. Sie wissen so gut wie ich, dass die Europäische Gemeinschaft ein Hühnerstall ist, ein Knäuel von immer kleiner werdenden Staaten – wenn man das, worin sich die Europäer eingerichtet haben, überhaupt noch als Staaten bezeichnen kann.“

Ach Europa! Möchte man da ausrufen, sollte nur ein wenig davon zutreffend sein. Aber was ist Europa wirklich? Und, wie sollte es sein?

Europa (griechisch Εὐρώπη) ist geographisch gesehen nur ein Subkontinent, des Kontinents Eurasien. Diese Halbinsel, die etwa ein Fünftel der eurasischen Landmasse einnimmt, erstreckt sich nach allgemeiner Übereinkunft vom Norwegischen Kinnarodden im Norden bis zum Spanischen Punta de Tarifa im Süden, vom Cabo da Roca in Portugal im Westen bis zum Ural im Osten. Zum Nachbarn Asien ist Europa nicht klar abgegrenzt und stand somit für allerlei Völkerwanderungen offen.

So ist denn auch nach einer bekannten Formulierung von Bernard-Henri Lévy Europa „kein Ort, sondern eine Idee“. Daran sollten auch wir uns orientieren – an den historischen, kulturellen, politischen und ideellen Aspekten.

Ich will hier aber weder die Geschichte nacherzählen, noch ein Überblick über die kulturellen Strömungen oder die politischen Bewegungen während der unruhigen Jahrhunderte, die Europas Völker seither durchlebt haben. Uns ist es wichtig hervorzuheben, was Europa einzigartig macht, ein Merkmal, das uns nachhaltig vom Rest der Welt unterscheidet, worauf wir stolz sein können, das wir notfalls zu verteidigen bereit sein sollten.

Die Rede soll von den so oft bemühten Europäischen Werten sein. Nur, was sind diese Ideen und Werte?

Gerne wird Europa mit dem „Christlichen Abendland“ gleichgesetzt – in deutlicher Abgrenzung zum (muslimischen) Morgenland. Ist dieses besondere Merkmal also das Christentum?  Unsere Antwort darauf ist ein klares „nein“. Zwar ist das Christentum erst im Gefolge des Aufstieg Europäischer Staaten zu Weltmächten auch zu einer Weltreligion geworden. Seine Wurzeln und seine frühe Verbreitung hat es bekanntermaßen jedoch in einem ganz anderen Kulturkreis im Nahen Osten.

Von Glauben einer ursprünglich verfolgten Minderheit hat sich das Christentum, nachdem es sich gegen den damals vorherrschenden indogermanischen Mithraskult durchgesetzt und diesen‚ mit Stumpf und Stiel‘ ausgemerzt hatte, selber zu einem intoleranten Machtfaktor entwickelt. Als traurige Höhepunkte sind uns Hexenverbrennungen oder die Vernichtung der Katharer in Südfrankreich durch Papst Innozenz III noch gut in Erinnerung.

Nachdem die Katastrophe der schwarzen Pest im 14. Jahrhundert die damalige Bevölkerung um etwa ein Drittel reduziert und in der Folge die zentralen Autoritäten vorrübergehend geschwächt hatte, blühten zwischen Norditalien und Flandern Stadtstaaten auf, Handel und Kunst gediehen Es war ein Freiraum allerlei neue Ideen entstanden. Der mündete schließlich in eine Zeit, die allgemein als Wiedergeburt (Renaissance) empfunden wurde.

Damals entstand zunächst in elitären akademischen Zirkeln die Bildungsbewegung des Humanismus, der eine Wiederbelebung der antiken Gelehrsamkeit nach dem Prinzip Ad fontes („Zu den Quellen“) propagierte. Das war der zarte Beginn einer Entwicklung, die schließlich zur Bewegung der Aufklärung führen sollte, mit der wir gemeinhin auch die Entstehung des modernen Europas gleichsetzen wollen.

Zuvor aber – doch, soviel Geschichte muss sein – musste Zentraleuropa eine weitere Katastrophe überstehen, die diesmal etwa der Hälfte der Bevölkerung das Leben kostete.

Die Humanisten entwickelten nämlich aus dem Studium antiker Autoren und dem allgemein freieren Denken heraus auch eine kritische Haltung gegenüber der Gegenwart und insbesondere gegenüber der Macht der Kirche. Diese philosophischen Strömungen, führten mit Denkern wie Erasmus von Rotterdam über Ulich van Hutten schließlich zu Martin Luther und der Reformation. Ermöglicht wurde deren durchschlagender Erfolg durch das zeitgleiche Aufkommen des Buchdrucks als Medium der Informationsverbreitung.

Die Gegenreaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Sie mündeten schließlich im dreißigjährigen Krieg. In diesen schicksalhaften 30 Jahren zwischen Prager Fenstersturz und dem Westfälischen Frieden wurde Mitteleuropa weitgehend verwüstet. Der Westfälische Friede wurde erst durch die totale Erschöpfung der Ressourcen und die allgemeine Kriegsmüdigkeit möglich. Die durch diesen Kompromiss zwischen allen beteiligten Parteien begründete Westfälische Ordnung, wenngleich keineswegs durchgehend friedlich, hielt immerhin etwa 200 Jahre bis zu den Napoleonischen Kriegen. Seine Grundprinzipien wirken noch heute in der Charta der Vereinten Nationen fort.

Mit dem Aufkommen der Gedanken der Aufklärung, die die Rationalität an die Stelle der verordneten Glaubensdoktrin setzten, war schließlich auch das „christliche Abendland“ nicht mehr Leitmotiv der philosophischen Betrachtungen.

Wie sagte einst Immanuel Kant über ebendiese philosophische Strömung? Sie sei der „Ausgang der Menschheit aus unverschuldeter Unmündigkeit“ – na ja, offenbar noch nicht für die gesamte Menschheit. Für uns ist sie die Wurzel des modernen Europas. Was sonst unterscheidet Europa – positiv – vom Rest der Menschheit? Während anderswo Philosophie und Religion nicht auseinandergehalten werden oder auf einen „gerechten König“ (kann es einen größeren Widerspruch geben?) gehofft wird, haben hier schon vor mehr als 300 Jahren Mutige die Trennung von Staat und Kirche, die bürgerlichen Freiheitsrechte und überhaupt erst Gedankenfreiheit gefordert. Auch wenn sie permanent von einer Art Fatwa bedroht waren, wollten sie statt an Autoritäten zu glauben, sich nach einem Satz von Kant lieber „ihres eigenen Verstandes bedienen“.

Politisch artikulierte sich die Rezeption dieser Prinzipien in der breiten Strömung des Liberalismus.

Zunächst ging es um den Kampf für bürgerliche Freiheiten und gegen die traditionellen Autoritäten, die ihre Legitimation aus irgendwelchen gottgegebenen, mythischen Urzuständen ableiteten.

Untrennbar mit den Ideen der Aufklärung verbunden, hielten es diese Ur-Liberalen für selbstverständlich, dass die moralischen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens ebenfalls rational aus den Anforderungen an ein funktionierendes Gemeinwesen abgeleitet werden sollten. Damit standen sie in krassem Gegensatz zu den konservativen Traditionalisten. Für diese konnte iese Moral nur religiös motiviert und unmittelbar von ihrem jeweiligen Gott auf uns Erdwürmer übertragen worden sein.

Der Geist war damit aus der Flasche. Wie ein Flächenbrand verbreiteten sich die neuen Ideen durch Europa. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hieß eine der bekanntesten Losungen der Französischen Revolution von 1789. „Liberté, Égalité, Fraternité“ ist noch heute der Wahlspruch der der Fünften Französischen Republik.

Womit wir in der Gegenwart angekommen wären.

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Menschenrechte sind die Werte, auf die sich die Europäische Union gründet. Sie sind im Vertrag über die Europäische Union verankert und wurden durch die Charta der Grundrechte gestärkt. Länder, die der EU beitreten wollen, müssen die Menschenrechte respektieren.

Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes beginnt mit dem wunderschönen Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Längst auch haben diese Ideen jenseits Europas Fuß gefasst. “All men are created equal” heißt es beispielsweise in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, wobei man allerdings Millionen an Sklaven geflissentlich außen vorgelassen hatte.

Heute also sind uns diese europäischen Werte, auf denen unsere alltäglichen Bürgerfreiheiten beruhen, so selbstverständlich geworden, dass es langweilt, von Ihnen zu hören. Eigentlich wäre es als gutes Zeichen zu werden, wenn Politik langweilig würde – wäre dieses Europa der Bürgerfreiheiten nicht bedroht.

Bedrohungen, von innen wie von außen, gab es seit jeher. Die ernsteren unter ihnen sind in uns selber zu suchen: politische Teilnahmslosigkeit, geschichtliche Ignoranz, Toleranz gegenüber dem Intoleranten, mangelnde Wertschätzung der „selbstverständlichen“ Bürgerfreiheiten, die Europa erst zu unserm Europa machen.

Diesen einzigartigen Kern Europäischer Lebensphilosophie zu bewahren und weiter zu entwickeln, ist unser entschiedenes Engagement wert.

2.    Warum wir Europa brauchen

Es bedurfte offenbar eingangs erwähnter, letzter großer Katastrophe der Europäischen Zivilisation, um den Anstoß zur Gründung einer Gemeinschaft zu geben, die wir heute als „Europäische Union“ kennen. Der zweite Weltkrieg, der bei sorgfältiger Analyse auch als schlicht Fortsetzung des ersten Weltkriegs zu sehen ist, hat nicht nur die besiegten Deutschen verunsichert zurückgelassen. Eine über ganz Europa verbreitete Bereitschaft, neu nachzudenken, die gefühlte Bedrohung durch den kommunistischen Block des Warschauer Pakts und auch der verdeckte Wunsch, einem möglicherweise wiedererstarkenden Deutschland durch eine straffe organisatorische Einbindung wirksam Fesseln anzulegen, hatten kurzzeitig das Fenster aufgestoßen für die Gründung der Montanunion, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich der Europäischen Union.

Seit der letzten gemeinsamen Großtat, der Einführung des Euro ab Januar 1999 (für elektronische Buchungen) und drei Jahre später – am 1. Januar 2002 – (als Euro-Bargeld) ist der Schwung jedoch spürbar erlahmt. Gerade die Euroeinführung hat strukturelle Schwächen offengelegt, die noch zu einer Zerreißprobe mit offenem Ausgang führen können. Mit dem Brexit, dem Austritt des Vereinigten Königreichs (UK) aus der Europäischen Union (EU) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG oder Euratom) am 31. Januar 2020, verließ das Vereinigte Königreich nach 47 Jahren als erstes Land formell die EU. Allgemein macht sich Katerstimmung breit. Von Retro-Politikern am rechten Rand des politischen Spektrums schon lange formuliert, sehen immer mehr enttäuschte Bürger der heutigen EU-Länder ebendiese europäische „Union“ als gescheitertes politisches Experiment an.

Dabei gäbe es ausreichend Aufgaben für ein starkes Europa, dessen Weg, der kein selbstherrlicher, aber ein selbstbewusster sein sollte, wie Egon Bahr, der Architekt der Deutschen Entspannungspolitik, einst – allerdings mit Blick auf Deutschland – formuliert hatte.

Aktuell sind wir Europäer zwar im Wesentlichen mit den Auswirkungen der CoVid-19-Pandemie beschäftigt. Schemenhaft allerdings nehmen wir während dieser erzwungenen Nabelschau wahr, dass sich „da draußen etwas ändert“. Wir ahnen bereits, dass wir uns, wenn der Nebel sich lichten wird und wir unsere Blicke wieder erheben werden, in einer deutlich veränderten Welt wiederfinden werden.

Auch wenn sich die Gewichte verschoben haben mögen, ist der Großteil der Herausforderungen, vor denen wir dann stehen werden, nicht neu. Wir kennen sie seit langem und haben sie bisher erfolgreich ignoriert oder sind sie halbherzig angegangen. Jetzt drängen sich diese „alten Bekannten“ mit Macht ins Blickfeld. Die Erde steuert geradewegs auf eine Katastrophe zu, die zum Aussterben der Menschheit oder zumindest zum Zusammenbruch dessen, was wir Zivilisation nennen, aber vielleicht auch zum Aussterben eines Großteils des gesamten Bioms der Erde führen könnte – wahrlich eine Krisensituation.

Die Rede ist von Artensterben, Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Umweltverwüstung, Überbevölkerung, der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit, wachsenden militärischen Spannungen im Zuge der Neuordnung der Welt, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eines neuen „kalten Krieges“.

Da es ausreichend Beweise dafür gibt, dass die Party irgendwann einmal zu Ende geht, beschränke ich mich hier willkürlich auf nur sieben Indikatoren für die drohende Katastrophe. Eine intensivere Beschäftigung mit jedem einzelnen dieser großen Herausforderungen ist natürlich erforderlich und soll folgen. Hier ist aber nur der Raum für eine kurze Charakterisierung.

Artensterben

Paläontologen haben herausgefunden, dass es im Laufe der Erdgeschichte (mindestens) fünf Massenaussterben gegeben hat, die jeweils große Teile allen Lebens auf diesem Planeten ausgelöscht haben. Am Ende der jeweiligen geologischen Zeitalter ging ein Großteil aller Arten verloren.

Hier die Zahlen:

  1. Im Ordovizium, vor 444 Millionen Jahren, 86%,
  2. Im Devon, vor 375 Millionen Jahren, 75%,
  3. Im Perm, vor 251 Millionen Jahren, 96%,
  4. In der Trias, vor 200 Millionen Jahren, 80%, und
  5. In der Kreidezeit, vor 66 Millionen Jahren, 76%.

Das sechste großen Artensterben, dieses Mal jedoch vom Menschen verursacht, ist bereits in vollem Schwange. Laut Global Environment Outlook 6 der UN hat sich der Bestand der Wirbeltiere seit 1970 um etwa 60 % verringert. Derzeit sind zwischen 25 und 42 % der wirbellosen Tiere, wie z. B. Insekten, vom Aussterben bedroht. Das Verschwinden von Insekten stellt eine besondere Bedrohung für die Erzeugung von Nahrungsmitteln dar. Das ist jedoch nicht die einzige Bedrohung, die die menschliche Nahrungsversorgung direkt betrifft: Ein Drittel der Landfläche des Planeten gehört mittlerweile zur Kategorie “degradierte Böden”; in den letzten 50 Jahren sind 40 % der Feuchtgebiete der Welt verschwunden. Erwärmung und Überfischung gefährden die Lebensgrundlage von über drei Milliarden Menschen, die auf Fisch als wichtigste Nahrungsquelle angewiesen sind.

Vermutlich ist also selbst der eher unangenehme Ausblick auf einen Planeten, dessen Biomasse hauptsächlich aus Menschen besteht, die auf einer gigantischen Müllhalde auf einem weitgehend verwüsteten Planeten leben, nicht einmal pessimistisch genug. Vielmehr könnten wir selbst schwer betroffen sein, wenn wir die Tatsache ignorieren, dass auch wir Menschen nur als Teil eines funktionierenden Ökosystems überleben können.

Klimawandel

Zu diesem Hauptthema ist schon viel geschrieben worden. Es steht nach wie vor ganz oben auf der Liste unserer großen Sorgen. Es hier daher hier nur kurz abgehandelt werden.

Selbst Paläo-Politiker wie Donald Trump haben zum Schluss – allerdings ohne Konsequenzen – nicht mehr leugnen können, dass der Klimawandel gerade vor unseren Augen stattfindet. Das heißt aber nicht, dass diese recht neue Erkenntnis irgendwelche sinnvollen Aktionen gegen dessen unaufhaltsames Voranschreiten angestoßen hätte. Ganz im Gegenteil, seine Behörden setzten sich für veraltete traditionelle Energiequellen ein und prangerten gleichzeitig die Erzeugung erneuerbarer Energien als ineffektiv und sogar gefährlich an.

Zwar ist hier bei der neuen Regierung des Joe Biden ein Wandel in den öffentlichen Bekundungen zu erkennen. Es bleibt aber abzuwarten, ob es sich hierbei vielleicht nur um ein weiteres Beispiel von Doppelmoral handelt, wie sie für die US-Politik bisher typisch war. In jedem Fall aber bleibt zu befürchten, dass die wachsende Rivalität der Weltmächte USA und China ernsthafte Korrekturen unserer Beeinflussung des Weltklimas verhindern wird.

Ressourcenverbrauch

Der Verbrauch von Ressourcen steigt parallel zum Bevölkerungswachstum und exponentiell mit dem viel gepriesenen Wohlstand. Es sind nicht nur die oft erwähnten “seltenen Erden”, die knapp werden könnten. Auch die landwirtschaftlichen Flächen lassen sich nicht beliebig vermehren. Eine “grüne Revolution” lässt sich wahrscheinlich nur ein- oder zweimal wiederholen. Die Böden degradieren, sind erschöpft. Sogar Wasser für die Landwirtschaft und den menschlichen Konsum wird zu einem knappen Gut. Das gilt selbst für etwas so Gewöhnliches, wie Sand für die Herstellung von Beton. Man gibt es nicht gerne zu. Aber viele dieser Ressourcen sind endlich. Sie lassen sich nicht reproduzieren. Der technische Fortschritt kann die Grenzen noch ein wenig verschieben, wie man am Beispiel der “Peak Oil”-Theorie sehen kann. Das ändert aber nichts an dem grundsätzlichen Problem der Endlichkeit der Ressourcen.

Dennoch scheint es so, als wären wir nie weiter von einem globalen Management knapper Ressourcen als Voraussetzung für unser Überleben entfernt gewesen. Vielmehr scheint Ressourcenknappheit zu einer Hauptquelle für geopolitische Risiken und daraus resultierende Konflikte zu werden.

Eine gute Illustration liefert der sog. „Earth Overshoot Day“. Er markiert den Tag, an dem die Menschheit so viele Ressourcen verbraucht hat, wie pro Jahr maximal nachhaltig genutzt werden können. Dieser Tag tritt tendenziell jedes Jahr früher ein, da die Weltbevölkerung wächst und wir tendenziell jedes Jahr pro Kopf mehr Ressourcen verbrauchen.

Nur im Jahr 2020 erschien er später als im Vorjahr, nämlich am 2020-08-22. Es lässt sich unschwer erkennen, dass die Beschränkungen im Zuge der Maßnahmen zur Bekämpfung der CoVid-19-Pandemie für diesen außergewöhnlichen Effekt verantwortlich sind. Das bedeutet, dass wir keineswegs Entwarnung geben können. Im Gegenteil: Wenn man sich eine grafische Darstellung der jährlichen Positionierung des Earth Overshoot Day über die letzten 50 Jahre ansieht, könnte man sie leicht mit einem Burn-Down-Diagramm verwechseln, wie es im modernen agilen Projektmanagement verwendet wird.

Der entscheidende Unterschied ist, dass wir hier nicht ein Product Backlog abbauen, sondern den gesamten Planeten abbrennen, und zwar bis auf null. Um dies nicht zuzulassen, scheint es jetzt mehr denn je notwendig, eine weltweit koordinierte Aktion durchzuführen. Immerhin steht das bloße Überleben der Menschheit mitsamt allem höheren Leben auf diesem Planeten auf dem Spiel.

Würde die gesamte Weltbevölkerung auf dem Niveau des durchschnittlichen US-Bürgers konsumieren, läge der Tag des nachhaltigen Ressourcenverbrauchs nämlich bereits im Februar. Aber der Rest der Welt, und insbesondere der sich entwickelnde Teil, zielt in eben diese Richtung. Und das kann man ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen. Warum und mit welchem Recht sollte man ihnen das vorenthalten wollen, was andere schon seit Jahren genießen können. Allein in China haben sich schon vor der dritten Jahrtausendwende 2 Milliarden stampfende Füße aufgemacht, um mit Fleiß, Energie und Entschlossenheit den Schritt in ein besseres Leben zu wagen. Dazu haben sie jedes Recht.

Und doch – es wird nicht genug für uns alle da sein.

Wachstumsökonomie

Es ist ein unhinterfragtes Dogma unter den Mitgliedern der herrschenden Klassen in allen mir bekannten Ländern, dass die Wirtschaft wachsen muss – je mehr, desto besser. Wie lange kann das so weitergehen, unendlich lange? Vielleicht sollten wir die führenden Schulen der Ökonomen daran erinnern, dass wir letztlich auf einem endlichen Planeten leben. Verbinden wir diese Erkenntnis mit der Aussicht auf ein schließlich zum Stillstand kommendes Bevölkerungswachstum, sollte nur noch eine Steigerung der Produktivität als Antrieb für ein Wirtschaftswachstum verbleibleiben. Aufgewachsen in einer Ära, in der unendlich fortschreitender “Fortschritt” unsere Grundannahme für alle weiteren Überlegungen war, halten bisher nur wenige Akademiker eine Null-Wachstums-Wirtschaft für wünschenswert oder auch nur für möglich. Die Aussicht auf eine stationäre Wirtschaft scheint jedoch nur eine logische Konsequenz zu sein, wenn wir ernsthaft das Ziel nachhaltigen menschlichen Lebens auf der Erde verfolgen.

Ich denke, es ist an der Zeit, von der Wissenschaft neue nachhaltige Wirtschaftsmodelle einzufordern.

Überbevölkerung

Die Weltbevölkerung hat im Jahr 2023 die Marke von 8 Milliarden Menschen überschritten. Bis zu Zeiten Napoleons gab es weniger als 1 Milliarde Menschen gleichzeitig auf der Erde. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die Weltbevölkerung alle 12-15 Jahre um eine Milliarde Menschen angewachsen. Unsere Bevölkerung ist heute mehr als doppelt so groß wie im Jahr 1970. Die Weltbevölkerung wächst derzeit um mehr als 80 Millionen pro Jahr. Mit einer Geburtenrate, die mehr als doppelt so hoch ist wie die Sterblichkeitsrate, wird sie höchstwahrscheinlich für den Rest dieses Jahrhunderts weiter ansteigen, wenn wir nicht etwas unternehmen. Es wird erwartet, dass sich die Wachstumsrate innerhalb weniger Generationen abflacht, was zu einer Sättigung der globalen Gesamtbevölkerung bei ca. 10 Milliarden Menschen im Jahr 2050 führen wird.

In Anbetracht des aktuellen Stands der Technik, unserer Ansprüche an einen menschenwürdigen Lebensstandard und auch nur unserer physischen Bedürfnisse, erscheint es zweifelhaft, dass die Menschheit bei dieser Zahl eine langfristig nachhaltige Existenz führen kann.

Vermutlich sind wir bereits zu viele.

Wirtschaftliche Ungleichheit

Global gesehen wächst die wirtschaftliche Ungleichheit der Menschheit. Wenn sie nicht wenigstens bis zu einem gewissen Grad begrenzt wird, wird sie schließlich jede soziale Ordnung zerstören. Historische Betrachtungen lehren uns, dass nur katastrophale Ereignisse wie Kriege, Epidemien oder Revolutionen die Fähigkeit hatten, die Ungleichheit wieder zu reduzieren. In “ruhigen” Zeiten wie dem aktuellen Jahrhundert der US-amerikanischen Welthegemonie driftet der Reichtum der wirtschaftlich handelnden Individuen wieder auseinander. Tatsächlich erfährt die alte Volksweisheit, dass „Die Reichen immer reicher werden“ ihre Bestätigung durch die neueste Vermögensstatistik des amerikanischen „Institute for Policy Studies“, ein Trend, der sich auch inmitten der Corona-Krise als vital erwiesen hat. Demnach konnten die weltweit 2.365 Milliardäre ihre Vermögen zwischen dem 18. März 2020 und dem 18. März 2021 um 54 Prozent, also um rund vier Billionen Dollar, steigern.

Nach dem “Global Risks Report 2021” des World Economic Forum geben die wachsende digitale Kluft und der unterschiedliche Grad der Techniknutzung vermehrt Anlass zur Sorge. Die aktuelle CoVid-19 Pandemie hat danach zwar die vierte industrielle Revolution beschleunigt und die Digitalisierung der menschlichen Interaktion, des elektronischen Handels, der Online-Bildung und der Telearbeit vorangetrieben. Diese Veränderungen versprechen enorme Vorteile. Die Möglichkeit zur Telearbeit und die schnelle Entwicklung von Impfstoffen werden oft als Beispiele angeführt. Aber sie bergen auch das Risiko, Ungleichheiten zu verschärfen und erst zu schaffen. Die “digitale Ungleichheit” wird als eine kritische kurzfristige Bedrohung gesehen. Denn eine wachsende digitale Kluft kann bereits bestehende gesellschaftliche Brüche verschärfen.

In den USA leben bereits mehrere “Stämme” ohne viel Kontakt nebeneinander. Gelegentlich bekämpfen sie sich gegenseitig. Dieser Trend wird sich eher noch verstärken. Er führt zu Abschottungstendenzen. Die Globalisierung der 1990er Jahre bricht vor unseren Augen zusammen. Sie durfte nie mit einem fairen Welthandel zu verwechselt werden. Vielmehr wurde sie als Herrschaftsinstrument eingesetzt, um hegemoniale Bestrebungen durchzusetzen.

Dennoch hat der globale Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Ideen zu wechselseitiger Abhängigkeit geführt und damit Bindungen geschaffen. Derzeit zerfällt die eigentlich erforderliche Weltgemeinschaft in zunehmend autoritäre Machtblöcke und Interessensphären zu einer Zeit, in der gemeinschaftliches Handeln vielleicht noch regionale und globale Katastrophen abwenden könnte.

Diese Entwicklung müssen wir umkehren..

Potenzial für Konflikte

Wie zu erwarten war, häufen sich die Hinweise, dass Ressourcenknappheit ebenso wie Überbevölkerung zu Konkurrenz und Konfliktpotenzial führt. Laut dem “Global Risks Report 2019” des Weltwirtschaftsforums nehmen die geopolitischen Risiken zu. In seinem Vorwort fragt es explizit rhetorisch:

Schlittert die Welt schlafwandelnd in eine Krise? Die globalen Risiken verschärfen sich, aber der kollektive Wille, sie anzugehen, scheint zu fehlen. Stattdessen verhärten sich die Fronten. Der im letztjährigen Global Risks Report festgestellte Übergang der Welt in eine neue Phase stark staatszentrierter Politik setzte sich auch 2018 fort. Die Idee der “Rückgewinnung der Kontrolle” – sei es im eigenen Land von politischen Rivalen oder extern von multilateralen oder supranationalen Organisationen – schwingt in vielen Ländern und bei vielen Themen mit. Die Energie, die jetzt darauf verwendet wird, die nationale Kontrolle zu konsolidieren oder zurückzugewinnen, birgt die Gefahr, dass die kollektiven Antworten auf die neuen globalen Herausforderungen geschwächt werden. Wir driften immer tiefer in globale Probleme hinein, aus denen wir uns nur schwer wieder herauswinden können.”

Die seither wachsenden militärischen Spannungen im Zuge der Neuordnung der Welt gehen inzwischen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eines neuen „kalten Krieges“ einher. Auch wenn wir uns mit der „atomaren Bedrohung“ eingerichtet zu haben scheinen, ist sie seit Hiroshima und Nagasaki unvermindert real. Sie kann, zwar nicht unerwartet, aber unvermittelt zu einer Katastrophe führen, die keineswegs lokal begrenzt bleiben muss.

Aber auch unterhalb der Schwelle zum militärischen Konflikt wird der wirtschaftliche Schaden beispielsweise einer Entkopplung der USA von China für die EU und hier insbesondere für Deutschland erheblich sein.

Schon die NATO-Russland-Krise von 2014 hatte der europäischen Wirtschaft schwere Verluste zugefügt. Sollten sich europäische Staaten den Sanktionen gegen strategisch wichtige chinesische Unternehmen anschließen, würde Europa noch wesentlich härter getroffen werden. Sollten wir uns wirklich dafür einspannen lassen, als Europäische Staaten US-amerikanische Hegemonialpolitik zu exekutieren?

Wo bleiben dabei die Interessen Europas? Nun, die zersplitterte europäische politische Landschaft, die zu einem guten Teil aus Zwergstaaten besteht, können wir getrost als Vasallen der USA betrachten. In den USA getroffene Entscheidungen werden, um den Anschein einer autonomen Entscheidung aufrechtzuerhalten, zwar mit einer verschämten Verzögerung aber dennoch von Europa ausgeführt.

Aber ist es wirklich in Europas Interesse, einfach in amerikanische Fußstapfen zu treten, amerikanische Kriege im Nahen Osten zu führen – zumindest ein bisschen, russisches Gas und chinesische 5G-Produkte zugunsten amerikanischer Marken zu blockieren?

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das China-Bashing, „made in USA“, in einem erneuten Großmacht-Wettstreit wurzelt, der sich seit einigen Jahren entwickelt. Diese US-Politik spaltet die Welt zunehmend zwei gegnerische Lager. Was in Europa gerade erst beginnt, scheint in anderen Regionen, die dazu neigen, jedem US-Impuls zu folgen, bereits in vollem Gange zu sein. Australiens Beziehungen zu China z.B. sind, wie Bloomberg berichtet, seit 2018 angespannt, als Canberra Huawei Technologies Co. aus “Gründen der nationalen Sicherheit” den Aufbau eines 5G-Netzwerks untersagte. Sie sind Anfang 2021, zu dem Zeitpunkt da dieser Beitrag verfasst wird, wahrhaft frostig, nachdem die Regierung von Premierminister Scott Morrison eine internationale Untersuchung über die Ursprünge des Coronavirus forderte. Wie Mohamed A. El-Erian in einem Bloomberg-Kommentar hervorhebt: Die Kosten für Australiens 2-Optionen-Modell werden weiter steigen. Das versteht er auch als Warnung an Länder, die das ebenfalls versuchen, darunter Kanada und Singapur.

Wir Europäer neigen Normalerweise dazu, jeder US-Politik blindlings zu folgen. In Fällen, in denen wir das nicht tun, wie im Fall der North-Stream-Pipeline (ob ihr Bau nun eine kluge Entscheidung war oder nicht), bekommen wir von unserem „älteren Bruder“ eine pädagogische Ohrfeige, die uns wieder zur Vernunft bringen soll. In dieser zunehmend polarisierten Weltordnung werden wir nicht einmal aufgefordert, eine Seite zu wählen. Von uns wird nur erwartet, dass wir folgen.

Je mehr die USA ihre Muskeln spielen lassen und China entsprechend reagiert, desto größer ist das Risiko, dass die Länder mit der doppelten Option gezwungen sein werden, sich für eine Seite zu entscheiden, insbesondere bei bestimmten Technologien.

Wie beim letzten Kalten Krieg könnte es auf lange Sicht einen klaren Gewinner geben. Wie aber bei allen Vorhersagen können wir uns allerdings nicht sicher sein, auf welche Seite wir heute setzen sollten. Wir können schon jetzt einen klaren Verlierer benennen – es wird der Planet sein, auf dem wir leben, das heißt wir alle.

Dass wir diesen Herausforderungen bisher nur zaghaft, unentschlossen oder gar planlos begegnet sind, hat seinen Grund. Uns fehlt dafür die mentale, die philosophische Ausrüstung. Vom „Seid fruchtbar und mehret Euch“ der Bibel bis zum „The sky ist the limit“ neo-liberaler Theoretiker wurden wir bisher stets vom Glauben an die Grenzenlosigkeit des Wachstums angetrieben. Diese in dem Wort „Fortschritt“ kondensierte Erwartung von „alles wird immer besser“ stößt nun allerdings unübersehbar doch an Grenzen. Nicht, dass wir es nicht hätten wissen können. Es fällt uns nur unendlich schwer zu akzeptieren, dass wir vor einer Zeitenwende stehen, die von uns ein radikales Umdenken einfordert.

Unsere jeweiligen politischen Führungen allerdings steuern leider kollektiv in die falsche Richtung. Es ist an der Zeit, entsprechende Gegenkräfte zu mobilisieren.

Wir brauchen ein Europa, das als Spieler auf der Weltbühne ernst genommen wird, sich erstens für die Erhaltung der Lebensbedingungen wirksam einsetzt, zweitens seine Interessen im Konzert der Weltmächte nachhaltig vertritt und dabei die typisch Europäischen liberalen Bürgerfreiheiten bewahrt – eine große Herausforderung, der die heutige EU in keiner Weise gewachsen ist.

3.    Warum wir Europa neu denken müssen

Die Europäische Union, wie sie hier und jetzt implementiert ist, ist eine Fehlkonstruktion. Sie ist nicht effektiv handlungsfähig. Es drängt sich der Eindruck auf, dass sie es nach dem Willen der handelnden Akteure auch gar nicht sein soll.

Europa braucht die demokratische Legitimation

Vielfach beklagt wird die fehlende demokratische Legitimation der als Eurokratie gescholtenen Brüsseler Verwaltung. Vor 10 Jahren hat sich Jürgen Habermas, Professor Emeritus für Philosophie der Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main seine Gedanken gemacht und sie in „Zur Verfassung Europas – in Essay“ niedergelegt. Danach befindet sich die Europäische Union „vor der Entscheidung zwischen transnationaler Demokratie und postdemokratischem Exekutivföderalismus“.

Wie auch Habermas leite ich aus dem „ungesteuerten politischen Komplexitätswachstum der Weltgemeinschaft, das den Handlungsspielraum der Nationalstaaten systematisch immer weiter einschränkt“, die Forderung ab, „die politischen Handlungsfähigkeiten über nationale Grenzen hinaus zu erweitern“.

Das Ergebnis wäre ein Staat Europa – nach außen einheitlich nach innen föderal aufgebaut. Das wäre übrigens keineswegs ein neuer Gedanke, so wie in diesem gesamten Beitrag letztlich nur bekannte Aussagen kombiniert werden, um daraus allerdings die nach unserer Meinung richtigen Schlüsse zu ziehen. Stephen Green wies in seinem Büchlein „The European Identity – Historical and Cultural Realities we cannot deny” darauf hin, dass 1946, noch inmitten der Ruinen des WWII, sogar Winston Churchill die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa vorgeschlagen hatte. Aber auch er hatte bereits Vorläufer, wie Aurel Popovici, der bereits 1906 die “Vereinigten Staaten von Großösterreich“ postuliert hatte.

Aktuell gibt es laut dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) sieben Europäische Organe:

  1. Das Europäische Parlament.
  2. Der Europäische Rat.
  3. Der Rat der Europäischen Union (Ministerrat)
  4. Die Europäische Kommission.
  5. Der Europäische Gerichtshof.
  6. Die Europäische Zentralbank.
  7. Der Europäische Rechnungshof.

An erster Stelle steht das europäische Parlament. Das ist auch gut so. Es suggeriert die Souveränität der Europäischen Völker über Ihre Entscheidungen. De-facto allerdings liegt die Macht im Ministerrat, also den Vertretern der Mitgliedsstaaten. Diese Entscheider mit ausschließlich nationalem Mandat fällen letztlich die Entscheidungen. Jeder von Ihnen will dabei für „sein Land“ das meiste aus dem großen Topf herausholen. Analog zu der bekannten „Tragedy of the Commons“ leidet darunter das Gemeinsame, also Europa.

Das europäische Parlament spiegelt diese streng nach Mitgliedsstaaten gegliederte Ordnung ebenfalls wider. Das beginnt bereits beim Fehlen echter Europäischer Parteien. Mitglieder der sogenannten Europäischen Parteien können nicht etwa die Bürger Europas werden, sondern nationale Parteien der Europäischen Mitgliedsstaaten.

Es scheint der unausgesprochene Konsens zu herrschen, dass Europa letztlich eine Art zivilisierte Neuauflage der Westfälischen Ordnung Europas sein solle, wie sie zwischen dem Westfälischen Friedensschluss im Jahre 1648 bis zu den Napoleonischen Kriegen für etwa 200 Jahre Bestand hatte. Hier wurden erstmals Nationalstaaten als Akteure erwähnt und vorranging deren Angelegenheiten untereinander geregelt – notfalls auch mit Krieg. Für die Beziehungen nach außen hin hingegen gab es keine Regelungen. Hier waren die Nationalstaaten die alleinigen Spieler. Handlungsunfähigkeit nach außen allerdings ist genau das, was Europa mehr denn je gerade jetzt benötigt.

Die Gegner einer tieferen Europäischen Integration weisen immer wieder genüsslich darauf hin, dass die Europäischen Völker zu verschieden seien, um ein einem Staat glücklich zu werden. Dem sei entgegengehalten, dass es zum einen hier nüchtern um das Überleben einer Europäischen Identität und Lebenswirklichkeit im sich zuspitzenden Wettstreit der Weltmächte USA und China geht und nicht etwa um den „Pursuit of Happiness“.

Der Investor Peter Thiel hat das Dilemma der Europäischen Staaten unlängst erkennbar schadenfroh auf den Punkt gebracht: „Irgendwann wird sich Deutschland bei seiner Exportstrategie entscheiden müssen. China oder Amerika? ‚Chimerika‛ wird nicht mehr lange funktionieren. Damit wird eine für Deutschland sehr, sehr unangenehme Frage aufgeworfen.

Dabei haben wir mitten in Europa sogar ein Beispiel für einen Staat, zu sich dem recht unterschiedliche Europäische Volksgruppen zusammengefunden haben, wenngleich in einem deutlich kleineren Format. Hier wird bereits seit 1291, dem Jahr der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, genau das praktiziert, was wir von und für Europa erwarten. Die Schweiz könnte in mancherlei Hinsicht durchaus als Blaupause für Europa herhalten.

Der Staat, in dem wir unseren politischen Gestaltungswillen manifestieren sollten, muss also nicht zwingend ein Nationalstaat sein.  Es gibt ohnehin ein wachsendes Gefühl unter Ökonomen, Politikwissenschaftlern und sogar nationalen Regierungen, dass der Nationalstaat nicht unbedingt der beste Maßstab ist, auf dem wir unsere Angelegenheiten regeln sollten. Wir sollten uns besser daran erinnern, dass der Nationalstaat ein junges Phänomen ist.

Vor dem späten 18. Jahrhundert gab es keine echten Nationalstaaten, sagt John Breuilly von der London School of Economics. Wenn man quer durch Europa reiste, fragte an den Grenzen niemand nach dem Reisepass. Es existierten weder Pässe noch Grenzen, wie wir sie kennen. Die Menschen hatten ethnische und kulturelle Identitäten, aber diese definierten nicht wirklich die politische Einheit, in der sie lebten.

Da der Nationalstaat also ein vergleichsweise junges Konzept ist, ist seine Zeit dann vielleicht ohnehin vorbei? Vielleicht, das soll nicht heißen, dass er seinen Aufstieg rein per Zufall genommen hat. Der Nationalstaat kann eher als die unausweichliche Folge einiger grundlegender Entwicklungen verstanden werden, allen voran die verbesserten Kommunikationsmittel durch Druck, Audio- und Videoübertragung, wie Zeitungen, Telegraf, Radio, Fernsehen und mehr. Eine weitere treibende Kraft war die Notwendigkeit, die durch die schnelle Industrialisierung im 19. Jahrhundert steigende, Komplexität zu bewältigen.

Einerseits können viele lokale Aufgaben besser auf – ja – lokaler Ebene behandelt werden, was auf ein eher spät-mittelalterliches Modell interagierender souveräner Stadtstaaten hindeutet. Andererseits können die wachsenden Probleme, vor denen wir stehen, nur auf einer viel höheren Ebene behandelt werden. Die ganze Welt wäre gefordert. Die europäische Ebene ist als das Minimum zu betrachten, um in einer multipolaren politischen Welt mitgestalten zu können.

Vieles deutet darauf hin, dass es wieder eine Kombination aus neuen Technologien und wachsendem Druck von außen sein wird, die den Weg zur Überwindung des offensichtlich nur vorübergehend hilfreichen Konstrukts Nationalstaat ebnen wird.

Die digitale Transformation ist mehr als ein Schlagwort und hat das Potenzial, nicht nur die Wirtschaft, sondern ganze Gesellschaften zu verändern und letztlich auch die Art und Weise, wie wir uns regieren werden. (Mehr dazu hier: “Let algorithms rule – not politicians!”).

Auf welchem Wege auch immer die politische Meinungsbildung stattfinden, nach welchen Verfahren wir regieren wollen, Europa als Staat benötigt eine unmittelbare demokratische Legitimation. Die Bürger Europas müssen ihre Regierung in direkter Wahl bestimmen und ihre Arbeit mit den Mitteln der parlamentarischen Demokratie kontrollieren können.

Europa benötigt mehr Gewicht

Ich habe es bereits mehrfach erwähnt: wenn wir nicht Spielball fremder Mächte, nicht Opfer globaler Entwicklungen, nicht zwischen rivalisierenden Machtblöcken zerrieben werden wollen, dann müssen wir uns neu erfinden. Wenn wir als respektierter Spieler auf der Weltbühne ernstgenommen werden, wenn wir uns selber ernst nehmen wollen, dann müssen wir Europa erschaffen. Ja, wir müssen es erst erschaffen. Denn das Europa, das wir dafür brauchen existiert noch nicht, es ist noch nicht einmal konsequent erdacht worden.

Um mit dem nötigen Kampfgewicht in den internationalen Ring steigen zu können, muss dieses Europa einige Eigenschaften aufweisen: Es muss groß, einheitlich und unabhängig sein.

Größe misst sich zuerst natürlich an der Anzahl der durch den Europäischen Staat vertretenen Individuen. Wichtiger für die internationale Rolle aber ist die kombinierte Wirtschaftskraft. Im Konfliktfall ist drittens, leider immer noch, die militärische Durchsetzungskraft ein entscheidendes Argument.

Alle drei Größen-Metriken hängen unmittelbar von der Anzahl teilnehmender Ursprungsstaaten ab. Dabei muss klar sein, dass keineswegs alle Europäischen Staaten bereit sein werden, auf diese Utopie einzugehen. Ganz im Gegenteil, ist aktuell eher ein Retro-Trend zu beobachten: zurück zur vertrauten Enge des heimischen Kreises, zur alten Tradition, zu ehernen Gewissheiten. Das verspricht Geborgenheit und Sicherheit – ist nur leider ein hohles Versprechen.

Auch kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese „Vereinigten Staaten von Europa“, der „Europäische Bund“ oder, wie auch immer der Name für dieses Zielkonstrukt lauten wird, für Staaten attraktiv sein wird, die sich im Sinne der Wertediskussion zu Beginn dieser Betrachtung nicht für eine Teilnahme qualifizieren. So ist beispielsweise, um eine alte Debatte aufzugreifen, eine Teilnahme der Türkei in ihrem aktuellen Zustand absolut undenkbar.

Einheitlichkeit ist hier im Außenverhältnis gefordert. Nur eine einheitliche Position einer, nach außen hin monolithischen Organisation, die nicht in einzelne Interessengemeinschaften auseinander dividiert werden kann, hat die Chance auf ein erfolgreiches Handeln. Dafür müssen, die für eine außenpolitische Handlungsfähigkeit relevanten Staatressorts wie mindestens Auswärtiges, Verteidigung, Finanzen und optional Wirtschaft & Energie, sowie übergreifende Infrastrukturen auf europäischer Ebene vertreten sein und mit den erforderlichen Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden.

Nach Innen allerdings sollte sich ein anderes Bild ergeben. Hier sollte sich die bunte Vielfalt Europäischer Kulturtraditionen frei entfalten können. Hier sollte für die Balance zwischen zentral und dezentral die Maxime gelten: Soviel Zentralismus wie erforderlich, so viel Regionalität wie verkraftbar. Ein Wettbewerb der Regionen wäre danach durchaus zulässig, im Sinne einer Steigerung der Gesamt-Performance vielleicht sogar wünschenswert. Möglich, dass in diesem Multinationenstaat sogar ein gewisser „zivilisierter“ Nationalismus der Völker seinen Platz haben kann, etwa in der Art, wie sich heute Bayern von Hanseaten abgrenzen und vice versa.

Unabhängigkeit: Die Forderung nach einer unabhängigen Europäischen Politik ergibt sich zwar zwanglos aus dem bisher Gesagten. Denn, würde die Europäische Politik das nicht, würde Europa international auch weder ernstgenommen werden noch im Sinne Europas handeln können.

Unabhängigkeit bedeutet nicht, keine Allianzen eingehen zu dürfen. Diese müssen jedoch im Interesse Europas liegen und nicht der Hegemonie anderer Großmächte dienen. Keinesfalls sollten wir gedankenlos die Kriege, mit denen die USA während der Zeit ihres Bestehens die Welt überziehen, gedankenlos „ein wenig mitkämpfen“. Unsere Freiheit ist keineswegs ungefährdet oder gar als gegeben zu betrachten. Sie musste allerdings noch nie am Hindukusch verteidigt werden, und wie sich nach 20 Jahren sinnlosen Blutvergießens gezeigt hat, konnte sie das auch nie.

Unter den unmittelbaren und mittelbaren Folgen dieser Aktionen leiden wir Europäer allerdings sehr wohl. Nicht nur, dass traditionelle gute Handelspartner per einseitigem Boykott ausfallen, Handelsrouten durch Konflikte gestört sind. Die durch diesen fatalen Interventionismus ausgelöste Flüchtlingskatastrophe hat noch immer das Potential ganze Gesellschaften zu radikalisieren und die derzeitige europäische Gemeinschaft zu sprengen. Unser heuchlerisches und inkonsequentes Handeln spielt skrupellosen Autokraten in die Hände und steht im krassen Widerspruch zu den Werten und Menschenrechten, die wir bei passender Gelegenheit so gerne bei anderen Staaten einfordern (bei unpassenden allerdings lieber nicht).

Der Dreiklang aus Größe, Einheitlichkeit und Unabhängigkeit allein würde für ein gewisses Gewicht sorgen. Je ausgeprägter diese drei Elemente verkörpert werden, umso größer würde der internationale Handlungsspielraum Europas werden.

Europa muss eine eigene Position vertreten

Welche politische Position sollte Europa einnehmen? Das Element der Unabhängigkeit Europäischer Politik habe ich bereits angerissen.

Der neue Trend, dass von China bis zu den USA der Slogan “Self-Reliance” zurückkehrt, könnte für Europa eine Chance für eine unabhängige Rolle sein, eine Chance, die es ergreifen sollte. Aus einer unabhängigen Position heraus könnte ein geeintes Europa sogar eine Rolle bei der Vermittlung zwischen den beiden Kontrahenten spielen. Dadurch ließen sich potenziell katastrophale Fehlkalkulationen einer der beiden oder beider Parteien vermeiden. Verwurzelt in der westlichen Tradition wie die USA, eigentlich eher ihr Ursprung, aber zusammen mit China auf der gleichen “Weltinsel” gelegen, um den mehr als 100 Jahre alten Begriff von Halford John Mackinder zu verwenden, könnte Europa die Rolle des Vermittlers zwischen den beiden Kontrahenten spielen. In jedem Fall wäre die Welt nicht mehr bipolar – wenn Europa nur aufwachen würde.

Ein weiteres Element der politischen Positionierung Europas ergibt sich aus den eingangs aufgeführten Europäischen Werten. Selbstverständlich darf und sollte Europa hier klar Stellung beziehen. Jeder darf die spezifisch Europäische Sicht auf das Weltgeschehen kennen. Die Frage nach dem Stil allerdings stellt sich sehr wohl. Keineswegs müssen unsere politischen Führungen jedem Diktator die blutige Hand schütteln und bei jeder Grausamkeit nur wegsehen. Von missionarischem Eifer, der sich letztlich doch nur in formelhaften Moralpredigten erschöpft, um anschließend zum Business as Usual überzugehen, sollten wir uns allerdings tunlichst verabschieden. Eine weltpolitische Instrumentalisierung der Menschenrechte, das hat die Erfahrung gezeigt, hat diesen nur nachdrücklich geschadet.

Europa muss sich eine klare Mission geben

“Europa befindet sich also in der Schwebe zwischen einer Vergangenheit, die es zu überwinden sucht, und einer Zukunft, die es noch nicht definiert hat.”

Mit diesen starken Worten schließt Henry Kissinger das Kapitel 2 “Das europäische Machtgleichgewichtssystem und sein Ende” seines 2014 erschienenen Buches “Weltordnung”

Das sind wahre Worte, klar und eindeutig, hinreichend provokant formuliert, um als Aufruf zum Handeln zu dienen.

Doch sie stießen bisher und stoßen offensichtlich weiterhin auf taube Ohren.

Hat Europa vielleicht doch, bei aller gewollten Zurückhaltung, Nichteinmischung bei Aufgabe der Rolle des Hilfssheriffs an der Seite des Weltpolizisten vielleicht doch eine Mission, eine Aufgabe, die in dieser Welt zu erfüllen Europa versuchen sollte?

Ich meine ja. Wie weiter vorn bereits erklärt, stehen wir als Menschheit vor einigen Herausforderungen, die größer sind als Deutschland, größer als Europa. Wir können nur hoffen, dass sie noch nicht zu groß sind für die Menschheit.

„Langfristige Erhaltung der Lebensgrundlagen für die Lebewesen auf diesem Planeten“ muss der primäre Imperativ lauten, dem wir zu folgen haben. Alternativen dazu kann es jedenfalls nicht geben, es sei denn wir wären geneigt, einen kollektiven Suizid mittelfristig als Alternative zu betrachten.

Dieser Maßgabe zu folgen bedeutet stärker als Gemeinschaft zu handeln, stärker jedenfalls als wir es bisher getan haben, viel stärker als es der US-Bürger gewöhnt ist, aber hoffentlich in einem anderen gesellschaftlichen Stil als es China zu tun pflegt.

Daraus ergibt sich ein wichtiges, typisch Europäisches Nebenziel: Der Erhalt und die Verteidigung der liberalen Bürgerfreiheiten. Es ist zu befürchten, dass sie sich bei der Bewältigung der vor uns als Menschheit liegenden Aufgaben, nicht in dem Maße aufrecht erhalten lassen werden, wie wir es gewöhnt sind und als selbstverständlich ansehen. Umso bedeutsamer wird es sein, sie in den Vordergrund zu rücken.

Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist“ wird der französische Schriftsteller Victor Hugo gerne zitiert.

Ist die Zeit für den Multinationenstaat „Europa“ schon gekommen? Ich meine ja – und nicht erst seit heute. Darum muss Europa neu gedacht werden.

4.    Wie wir Europa erschaffen können

Die politische Strategie, die angeblich auf ein gemeinsames Europa abzielte, war bisher nicht erfolgreich. Europa verharrt aktuell in einem Niemandsland ohne erkennbaren Ausweg. In ihrer Desorientierung wissen Europas gewählte Führungen nicht genau, wo sie stehen und noch weniger, wohin sie gehen sollen. Oder ist es genau das, was sie nicht wollen? Wollen sie wirklich nur den Moment leben und die Zukunft ignorieren – solange sie am Horizont als fernes Donnergrollen erscheint? Auf jeden Fall lassen sie sich eher schubsen als selber zu führen, lassen sich von einem 16-jährigen Mädchen in der UN-Vollversammlung in sparsamen, aber klaren Worten die Leviten lesen.

Europa muss seine Zukunft erst noch definieren, darauf können wir uns sicherlich mit Henry Kissinger, dem Altmeister der Realpolitik, einigen. Also habe ich das Ziel eines Europäischen Multinationenstaats skizziert, seine Position auf der Weltbühne entworfen und eine Mission entworfen.

Inhaltlich schlage ich also deutliche Änderungen vor. Nicht gesagt habe ich bisher, auf welche Wese wir das erreichen wollen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass wir es mit den bisher angewandten Verfahren und mit den heutigen politischen Akteuren nicht schaffen werden.

Mehr Programm – weniger Mensch

„Der beißt nicht. Der will nur spielen“, sagen Hundeführer gerne über ihre Schützlinge.

Mit einem leicht abgewandelten Statement lässt sich die Grundeinstellung heutiger Berufspolitiker charakterisieren:

„Die machen keine Politik. Die wollen nur Karriere machen.“

Also keine Angst, alles halb so wild, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Der politische Inhalt wird nach Opportunität zurechtgebogen. Der Karriereerfolg ist das alleinige Kriterium.

Ein Caveat jedoch sei angebracht: Das Gesagte gilt nur für Organisationen, in denen sich eine Karriere auch lohnt – und das politische Programm ohnehin eher durch Meinungsumfragen als durch eine innere Überzeugung bestimmt wird. Wie sonst ließe sich erklären, dass in Deutschland im Frühjahr 2021, kurz vor einer Wahl, plötzlich alle Parteien „ergrünen“. Während sie noch vor Kurzem über die „grünen Spinner“ hergezogen hatten, haben sie urplötzlich, getrieben durch Wahlprognosen, in einer abrupten Kehrtwende ebenderen Programmpunkte ohne Zögern übernommen.  Anders sieht es meistens am rechten und linken Rand des politischen Spektrums aus. Hier sitzen noch politische Überzeugungstäter – zu Beginn jedenfalls.

Erhalten wir auf diesem Wege die politische Elite, die wir glauben, zu brauchen? Wohl eher nicht.

Vertagen wir für einen Augenblick einmal die Frage, ob wir denn wirklich eine „politische Elite“ benötigen. Aber warum eigentlich erhalten wir sie auf diese Weise eben nicht?

Nun, der instinktsichere, reaktionsschnelle Dschungelkämpfer ist eben nicht der weitblickende Führer auf seinem einsamen Gipfel. Jedes verdächtige Rascheln blitzschnell einschätzen zu können, im Zwielicht des Unterholzes, in dem man nun mal seine Karriere beginnt, einen Schatten als Bedrohung zu erkennen, gleichzeitig aber die richtigen Allianzen – auf Zeit – zu schmieden, kurz Survival-Fähigkeiten, sie sind für den Aufstieg wesentlich. Sonst überlebt der ehrgeizige Neuling schon die ersten Tage in den Hinterzimmern der Gremiensitzungen nicht.

Aber qualifizieren sie auch zur Führung einer Behörde, eines Staats?

Natürlich findet hier eine Auswahl der Fähigsten statt. Das sind keine Dummchen, die sich hier durchsetzen – na ja, in der Regel nicht. Aber es ist eben eine spezielle Auswahl. Nun geht die traditionelle politische Karriere in diesem, unserem Lande allerdings, wie jeder andere Aufstieg auch über verschiedene Stufen, den „langen Marsch durch die Institutionen“ vom kleinen Parteisoldaten bis zum mächtigen Parteisekretär.

Klar, dass sich die Anforderungen an die Kandidaten auf den einzelnen Stufen unterscheiden. Die Auswahl müsste also auf jeder Stufe neu beginnen, mit dem Ergebnis, dass vielleicht einmal kein geeigneter Kandidat zur Verfügung steht. Schlangen und Reptilien, wie auch Insekten, häuten sich, wenn sie wachsen wollen. Das tun auch Karrieristen in Unternehmenshierarchien. Und das tun Parteiaufsteiger eben auch. Sie schlüpfen einfach in eine neue Rolle, manchmal in eine neue Identität, ändern ihre Gewohnheiten, manchmal ihr Umfeld und tauschen ihre Kontakte aus. Sie „akquirieren“ den geforderten optimalen „Skillset“ für diese Rolle.

Alles nur eine Frage des Engineerings, des Managements. Hmmm, geht das so, so einfach? Ach eines hatte ich noch vergessen. Ab irgendeiner Stufe muss man auch an die Wirkung auf die Öffentlichkeit denken. Da muss man bei aller Qualifikation, „authentisch ‚rüberkommen“. Dafür muss man einige, geschickt gestaltete „Ecken und Kanten“ vorzeigen können, vielleicht sogar eine gewisse Volkstümlichkeit. Denn das Volk stellt später dann schließlich einmal auch das Wahlvolk.

Die harte Kärrnerarbeit der treuen Parteisoldaten an der Basis muss ebenfalls belohnt werden. Sonst finden sich am Ende womöglich keine Sänftenträger für die Mächtigen mehr. Jede Pyramide braucht ihre Basis. Es gibt also auch alternative Wege nach oben – vielleicht sogar, ohne 7 Häutungen zu durchlaufen.

Darum geht es schließlich, um den Weg nach oben, den Viele gleichsetzen mit dem Weg zur Macht, Macht über Andere.

Diese Maschinerie funktioniert schon lange so. Sie hat bereits ganze Politikergenerationen hervorgebracht, also auch die, deren mangelnde Weitsicht wir so sehr beklagen, deren Parteiengezänk uns auf die Nerven geht, denen wir nicht zutrauen, uns heil durch die Fährnisse zu leiten, die auf dem ungewissen Weg in die Zukunft vor uns liegen. Wenn wir also eine neue, eine ganz andere politische Elite wollen, dann muss diese offenbar durch andere Mechanismen hervorgebracht werden, vielleicht unter Verzicht auf eine klassische Karriere.

Aber ist diese politische Elite eigentlich notwendig? Ist der Berufspolitiker, der alles kann und sonst Nichts 😊, im digitalen Zeitalter eigentlich noch zeitgemäß?

Meine Antwort hier ist ein klares Nein.

Politik ist zu wichtig, als dass wir sie den Politikern überlassen könnten, die – siehe oben – gar nicht „beißen“ wollen. Wir brauchen offenbar ein ganz anderes System, um zu politischen Entscheidungen zu kommen, um zu regeln, zu regieren.

Dieses System haben wir heute nicht. Darüber herrscht wohl Konsens.

Wie es aussehen soll, dazu kenne ich keine konsolidierten und akzeptierten Theorien. Also müssen wir selber nachdenken, uns herantasten – am besten deduktiv, top-down.

Meine These lautet: Weniger Mensch – mehr Programm, entsprechend dem bekannten Graffito „Keine Macht für Niemand“.

Parteiprogramme gibt es schon lange. Jede Partei hat eins. Wenige Wähler haben je eines gelesen oder gar ihre Wahlentscheidungen darauf aufgebaut. Meistens sind sie bewusst allgemein gehalten, um den politischen Spielraum der handelnden Akteure nicht unnötig einzuengen. Entsprechend geben sie im konkreten Entscheidungsfall selten determinierende Entscheidungshilfe.

Das Wort „Programm“ hat im allgemeinen Verständnis mindestens zwei Bedeutungen: Einmal eben das besagte Parteiprogramm. Im Kontext von Computern aller Art wird es mit einer deterministischen Rechenvorschrift gleichgesetzt.

Wie wäre es eigentlich, wenn wir beide Varianten zusammenführten? Darüber habe ich mir bereits an anderer Stelle Gedanken gemacht. Wir sollten sie hier nicht wiederholen. Nur so viel sei gesagt: Im Ergebnis und langfristig betrachtet halte ich Algorithmen für die besseren Politiker.

Werden Politiker dann arbeitslos? Nein, sie werden zu Programmierern – zu Parteiprogrammierern. Vielleicht braucht man dann auch keine Berufspolitiker mehr, oder jedenfalls nicht mehr so viele. An Entwurf, Abstimmung und den umfangreichen Tests, können dann auch Teilzeit- oder Feierabendpolitiker mitwirken.

Der Weg zu mehr direkter Demokratie, der über Bürgerbegehren und ähnliche Aktionen – außer in der Schweiz – eher schlecht funktioniert, ist damit über eine geregelte Mitwirkung am Regelwerk mithilfe aktueller elektronischer Kommunikation geebnet.

Ein permanenter Parteitag nach Art eines Facebook-Chats? Ja, warum denn nicht?

Der lange Marsch durch die Institutionen

Aber wir ahnen es bereits. Das Ende des Berufs „Politiker“ wird nicht über Nacht eintreten. Auch wenn regelbasiert und KI-gestützt bessere Regierungsentscheidungen zu erwarten sind, müssen wir dieses Politik-Orakel, diese große Auskunftsmaschine, erst schaffen. Ein so großes Ziel kann vermutlich nur in kleinen Schritten erreicht werden.

Am Anfang muss immer noch der Wille stehen, Europa neu zu erschaffen. Dieser Wille muss sich sichtbar manifestieren, am besten getragen von einer Grassroots-Bewegung. Denn ganz offensichtlich darf sich Politik nicht auf ein „fire and forget“ am Wahltag beschränken.  Sie muss wieder die Aufgabe eines Jeden werden. Unsere gewählten Volksvertreter sollten sich darauf beschränken, uns zu vertreten. Sie sind nicht „die Obrigkeit“, sondern eben unsere Vertreter, die uns Rechenschaft schulden. Manche einem von Ihnen muss man das vielleicht erst noch sagen. Wir sind nicht ihre „Untertanen“ sondern ihre Auftraggeber.

Es ist aber ebenso offensichtlich, dass das politische Tagesgeschäft nicht am Feierabend im Kollektiv von heimischen Sofas aus erledigt werden kann. Allerdings wird sich diese Sammlungsbewegung schon auf die wesentlichen Prinzipien einigen müssen, die die eingangs genannten, drängenden Fragen adressieren, vor denen wir insgesamt stehen.  Um dabei erfolgreich zu sein, sollten sich die Bekenntnisse und Forderungen eine gewisse Generalität bewahren. An Detailfragen und Umsetzungsvarianten können sich allzu leicht Meinungsverschiedenheiten entzünden, mit der Gefahr von Fraktions- oder Flügelbildung, Abspaltung bis hin zur Zersplitterung. Niemandem wäre damit geholfen.

Wie das Beispiel des „Ergrünens“ der Deutschen Parteienlandschaft eindrucksvoll demonstriert, kann eine große und entschlossene Überzeugungsgruppe, ohne formale Macht, die ihren politischen Willen artikuliert, durchaus Politiker oder gar ganze Parteien in ihrem Sinne beeinflussen, die diesen Themen gegenüber bisher indifferent oder abweisend waren.

Damit sind nicht zuerst die Grünen als Partei gemeint. Deren prognostizierte Erfolg bei den bevorstehenden Bundestagswahlen im Herbst dieses Jahrs versetzt zwar die deutsche Parteienlandschaft (bis auf die AfD) in helle Aufregung.

Es ist jedoch eine andere Grassroots-Bewegung gemeint; nach außen erkennbar nur lose organisiert, aber geeint durch einen starken gemeinsamen Antrieb und so geschickt inszeniert, dass es den Neid der Politprofis erregte. Die Fridays for Future Bewegung hat geschafft, was einer Vielzahl anderer Organisationen verwehrt geblieben ist. Sie haben fast die gesamte politische Szene dazu veranlasst, blitzschnell, hochflexibel und ohne lange Rückzugsgefechte ihren Wendehals um 180° zu drehen. Seither waren diese „schon immer“ vorrangig für Umweltbelange eingetreten.

Dem Zeitgeist eine Stimme und eine Zahl zu geben hat für ein politisches Beben ausgereicht. Die Aufrichtigkeit dieses plötzlichen Sinneswandels muss nicht angezweifelt, sie kann gefahrlos verneint werden. So sind denn auch die Nachhaltigkeit und die Umsetzungskonsequenz der daraus notwendigerweise resultierenden Maßnahmen eher fraglich. Es braucht also offenbar mehr als nur „Soft Power“. Erforderlich scheint ein „organisierter Widerstand“. Möglicherweise wird es sogar als unvermeidbar erweisen, den beschwerlichen Weg zu beschreiten und hier in Deutschland, wie auch in jedem anderen Europäischen Staat, eine ganz konventionelle nationale politische Partei zu gründen. Immerhin gäbe sie dem hier formulierten Auftrag eine juristisch verfasst Heimat. Die Arbeit finge damit allerdings erst an, ein langer Marsch durch die Institutionen.

Ein einiges, starkes und dabei liberal verfasstes Europa bleibt eine große Vision, der wir uns schrittweise nähern müssen.

5.    Europa – und was danach kommt.

Heute noch kämpfen wir mit der Erkenntnis, dass wir Europäer, angesichts der gigantischen Herausforderungen vor der die Menschheit als Ganzes steht, unsere Gemeinsamkeiten über das Trennende stellen sollten.

Das zu erreichen und damit ein handlungsfähiges Europa zu erschaffen, wird über einige Jahre unsere ganze Kraft kosten. Wir ahnen aber bereits, dass das noch lange nicht das Ende der Geschichte, „The end of history“[1], sein kann.

Wir müssen Europa nicht zuletzt deshalb erschaffen, damit wir unsere Geschicke in der Welt selber mitentscheiden können, damit wir unsere Interessen durchsetzen können, damit wir in dem großen Gerangel nicht zwischen den Weltmächten zerrieben werden.

Doch das wird nicht reichen. Um den Herausforderungen zu begegnen, denen die gesamte Menschheit gegenübersteht, ist es erforderlich insgesamt als Gemeinschaft zu handeln. Eine Westfälische Weltordnung des sich gegenseitig Austarierens, würde dem nicht gerecht werden. Es wird nicht genug sein, sich als Europäer zu fühlen und für Europa zu kämpfen. Wir werden uns als Weltgemeinschaft begreifen müssen, in einer Liga der Weltbürger vereint, uns wie Weltbürger verhalten.

Denn, verglichen mit den eingangs skizzierten Herausforderungen erscheint der sich anbahnende neue Großmacht-Wettbewerb, so universell und zeitlos seine Regeln auch sein mögen, wie ein Spiel aus dem 19. Jahrhundert. Die Zeit, die uns noch zum Handeln bleibt, läuft ab. Es gibt es einfach keinen Platz für eine Erneuerung des Great Game, eines neuen Kalten Krieges, etwa der USA gegen China oder irgendeinen anderen Großmacht-Wettbewerb.

Die Burn-Down-Tabelle der Ressourcen unseres Planeten wird uns keinen Aufschub gewähren. Bleiben alle anderen Entwicklungen ungebremst, wird allein die Ressourcenverknappung die Maschine irgendwann zum Stillstand bringen. Bis dahin, im Bereich weniger Jahrzehnte, werden wir die verheerenden Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels spüren. Ganz zu schweigen von den unmittelbaren kurzfristigen Bedrohungen wie der gesellschaftlichen Ungleichheit oder der Gefahr des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen.

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie nur überwunden werden können, wenn wir Weltbürger anfangen, uns auch als Weltbürger zu verstehen und als Gemeinschaft in gemeinsamer Mission zu handeln.  Wir benötigen mehr denn je eine Wiederauferstehung der Vernunft aus ihrem postmodernen Grab. Falls wir uns jedoch dafür entscheiden, weiterhin den traditionellen, ausgetretenen Pfaden zu folgen, wird sich die Erde am Ende selbst helfen – mit düsteren Folgen für uns alle.

Beginnen wir als zunächst einmal vor der eigenen Tür.

Zum Abschluss will ich hier noch einmal Henry Kissinger zu Wort kommen lassen: „Wenn wir nun über die EU reden, stellt sich die Frage, ob wir über eine politische Entität sprechen mit einer aktiven Strategie und klar definierten Zielen.

Oder entwickelt sie sich zu einer Institution, die sich auf die Wohlfahrt ihrer Bevölkerung fokussiert und auf die Förderung gewisser Wissenschaftsbereiche, aber ohne Ambition auf Mitwirkung in globalen Fragen?

Europa hat in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht enorme Leistungen erbracht, aber mit Blick auf seine historische und strategische Rolle scheint mir Europa noch ganz am Anfang der Entwicklung zu stehen. Das wird in meinen Augen die zentrale Herausforderung sein für die kommenden Jahre.“

Diese Herausforderung sollten wir annehmen. Fangen wir an, dieses Europa zu erschaffen.

 

Horst Walther, Hamburg, 2021-05-29

[1] The End of History and the Last Man is a 1992 book of political philosophy by American political scientist Francis Fukuyama

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Ich bin bin in (Ost-) Berlin geboren. Noch im letzten Augenblick konnten meine Eltern mit mir den Westteil der Stadt und von dort Norddeutschland erreichen. Ich habe Chemie, Informatik, Orientalistik und Volkswirtschaftslehre studiert. Heute bin ich als Interim Manager, Unternehmensberater, Buchautor und Dozent tätig.

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