Europa – welches Europa?

Die Europäische Union muss erst noch geschaffen werden.

Der folgende Beitrag ist bereits 6 Jahre alt, hat aber nichts von seiner Aktualität verloren. Lediglich die äußeren Umstände haben sich verändert.

 

Jeremy Shapiro, Forschungsdirektor des European Council on Foreign Relations, schreibt am 15. Mai 2018 in Foreign Affairs: “Warum Trump Europa gefahrlos ignorieren kann: Seine Führer verurteilen leichthin, handeln aber nie.” Verbreitet Shapiro lediglich die übliche Trump’sche Anti-Europa-Propaganda? Oder weist er vielmehr auf ein Symptom europäischer Hilflosigkeit hin – die Unfähigkeit, eine gemeinsame Stimme zu finden, die Unwilligkeit, mutige Schritte zu unternehmen?

 

Das Bild, das am Ende bleibt, ist eines der europäischen Machtlosigkeit“, fasst derselbe Autor seine Meinung in der Financial Times zusammen.

 

Amerika ist kein verlässlicher Partner mehr“, wurde die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal zitiert, und „Europa muss seinen eigenen Kurs bestimmen“.

 

Man könnte sich fragen, ob Amerika das jemals war. Ich meine, ob es jemals eine Partnerschaft war oder nur die Herrschaft eines weit überlegenen Hegemons: der Gorilla als gleichberechtigter Partner des Rhesusäffchens. Das ist jedoch der weniger wichtige Teil der Botschaft. Es wird bald ohnehin der Vergangenheit angehören.

 

Wo steht Europa jetzt in diesem Moment der Not? Existiert es überhaupt? Oder ist es nur ein Phantom des Wunschdenkens? Die drei obigen entmutigenden zufälligen Zitate scheinen eine tiefere Wahrheit zu offenbaren: Es gibt kein Europa – zumindest nicht im Sinne eines ernstzunehmenden Akteurs auf der Weltbühne.

 

Trotz aller europäischen Verträge ist Europa nicht in der Lage, als eine einheitliche politische Einheit zu handeln: „Die Europäische Union basiert auf dem Rechtsstaatsprinzip. Das bedeutet, dass jede Handlung der EU auf Verträgen beruht, die von allen EU-Mitgliedsländern freiwillig und demokratisch genehmigt wurden.“

 

Das Schlüsselwort hier ist „Länder“. Die EU ist nur ein Netz von Verträgen, ein lockerer Zusammenschluss hartnäckig unabhängiger Nationalstaaten, die eifersüchtig und um jeden Preis ihr spezifisches außenpolitisches Profil wahren und die Eitelkeiten ihrer – im globalen Vergleich – lokalen Führer bedienen wollen.

 

Europa ist also nicht direkt demokratisch durch das „europäische Volk“ legitimiert, sondern eher durch die Einfügung einer weiteren Ebene der Indirektion. Und genau diese zusätzliche Ebene verursacht fast alle Probleme.

 

Das zugrunde liegende Prinzip ist als Subsidiaritätsprinzip bekannt. Es hätte durchaus als Öffnungsklausel für die EU verstanden werden können, um ein staatsähnlicher Akteur zu werden. Es hat jedoch eher gegenteilige Effekte erzeugt.

 

Vielmehr erweckt es den Eindruck – und jeder, der das Subsidiaritätsprinzip betont, bestätigt dies –, dass es weder für die EU beabsichtigt ist, als eine einzige politische Einheit zu handeln, noch dass dies toleriert würde.

 

Gibt es niemanden, der sich diesem offensichtlich dysfunktionalen System widersetzt oder sogar Schritte unternimmt, die Mängel zu heilen? Nun, es gibt mehrere Bewegungen – von der Basis bis hin zu halb-offiziellen. Interessanterweise sind die meisten Bewegungen, die direktere Wege der Demokratie befürworten, inhärent anti-europäisch.

 

Um zu beweisen, dass die europäischen Völker unterschiedlich sind und niemals in einer rechtlichen Einheit zusammengefasst werden dürfen, nutzen sie alte und einfache Stereotype wie: Frankreich isst, Italien singt, Griechenland tanzt, Deutschland arbeitet und die Briten pflegen ihren seltsamen Sinn für Humor.

 

Das Überleben der Europäischen Völker ist offensichtlich kein Thema für sie – abgesehen davon ist das Argument an sich fehlerhaft. Es berücksichtigt nicht die innerstaatliche Vielfalt, mit Völkern, Nationen oder Stämmen, die nicht immer freiwillig Teil der Staaten sind.

 

Dennoch wächst ein nagender Verdacht unter Ökonomen, Politikwissenschaftlern und sogar nationalen Regierungen, dass der Nationalstaat nicht unbedingt die optimale Ebene ist, auf der wir unsere Angelegenheiten regeln sollten. Wir sollten uns daran erinnern, dass der Nationalstaat keineswegs zeitlos ist, sondern ein jüngeres Phänomen darstellt.

 

Vor dem späten 18. Jahrhundert gab es keine echten Nationalstaaten, sagt John Breuilly von der London School of Economics. Wenn man durch Europa reiste, fragte niemand nach einem Pass an den Grenzen; weder Pässe noch Grenzen, wie wir sie kennen, existierten. Menschen hatten ethnische und kulturelle Identitäten, aber diese definierten nicht wirklich das politische Gebilde, in dem sie lebten.

 

Da der Nationalstaat ein vergleichsweise junges Konzept ist, ist seine Zeit ohnehin vorbei? Damit will ich nicht sagen, dass er durch reines Glück entstanden ist. Der Nationalstaat kann durchaus als zwingende Folge einiger grundlegender Entwicklungen verstanden werden, in erster Linie die verbesserten Kommunikationsmittel durch Buch- und Zeitungsruck, Audio- und Videoübertragung, wie Zeitungen, Telegraph, Radio, Fernsehen und mehr. Eine weitere treibende Kraft war die Notwendigkeit, die steigende Komplexität der schnellen Industrialisierung im 19. Jahrhundert zu bewältigen.

 

Auf der einen Seite könnte eine Reihe lokaler Aufgaben besser auf – ja – lokaler Ebene gelöst werden, was auf ein mittelalterlicheres Modell souveräner Stadtstaaten hinweist. Auf der anderen Seite können die zunehmenden Probleme, denen wir auf globaler Ebene gegenüberstehen – wenn es nicht schon zu spät ist – nur auf einer eben weit höheren Ebene gelöst werden. Weltweit wäre erforderlich. Die europäische Ebene ist als Minimum zu betrachten.

 

Es ist durchaus vorstellbar, dass es wieder eine Kombination aus neuen aufkommenden Technologien und zunehmendem externem Druck sein wird, die den Weg ebnen, dieses offensichtlich nur vorübergehend hilfreiche Konstrukt des Nationalstaats zu überwinden.

 

Die digitale Transformation ist mehr als ein Schlagwort. Sie hat das Potenzial, nicht nur einzelne Industrien, sondern ganze Gesellschaften zu transformieren und letztendlich die Art und Weise, wie wir unsere „Länder“ regieren werden („Lasst Algorithmen regieren – nicht Politiker!“ ) , oder wie auch immer diese supranationalen Einheiten dann genannt werden..

 

Auf der anderen Seite beginnt eine neue Ära mehr oder weniger getarnter Großmachtpolitik, mit einem nach rechts gerückten Amerika, von dem nach dem Drehbuch eines obskuren, in Claremont ansässigen, kalifornischen Think Tanks für die Europäischen Staaten nichts Gutes zu erwarten ist.. Dessen Mitglieder sind treue Anhänger des deutschen Philosophen Leo Strauss. Sie verdienen eine nähere Betrachtung. Hier würde sie den Rahmen unserer Betrachtungen sprengen.

 

Aber schon jetzt sollten wir genügend Einblick haben, um zu erwarten, dass der „entfesselte Riese“ USA seine Macht rücksichtslos einsetzen und viel Unheil in der Welt anrichten wird – Konflikte im Weltkriegsmaßstab eingeschlossen. Die Souveränität keines einzigen europäischen Staates wird in diesem bevorstehenden globalen Machtkampf unberührt bleiben.

 

Es gibt mehrere denkbare Szenarien der Marginalisierung der Europäischen (Zwerg-) Staaten durch die aktuellen Großmächte. Wir könnten dabei als Vasallenstaaten und unsere Anweisungen von jenseits des Atlantiks erhalten, werden bestenfalls „finlandisiert“ oder sogar zwischen den kämpfenden Riesen zerrieben. Offensichtlich ist kein einziges angenehmes Szenario darunter.

 

Nach all diesen Worten und ohne brauchbare Alternativen zur Hand zu haben, drängt sich der Eindruck auf, dass die Zeit gekommen ist, endlich einen europäischen Staat zu schaffen. Viel Zeit zum Handeln wird uns nicht mehr bleiben.

Siehe auch: https://www.washingtonpost.com/news/worldviews/wp/2016/06/20/the-rise-and-fall-of-europe-in-maps

Share:

Ich bin bin in (Ost-) Berlin geboren. Noch im letzten Augenblick konnten meine Eltern mit mir den Westteil der Stadt und von dort Norddeutschland erreichen. Ich habe Chemie, Informatik, Orientalistik und Volkswirtschaftslehre studiert. Heute bin ich als Interim Manager, Unternehmensberater, Buchautor und Dozent tätig.

Write a comment

LinkedIn
Share
URL has been copied successfully!

New Report

Close