Zeit für Europa, den Reset-Knopf zu drücken

Große Unordnung herrscht unter den Himmeln – die Lage ist ausgezeichnet
(天下大乱形势大好).

Diese Worte von Mao Zedong im Jahr 1967, ausgesprochen während einer seiner Inspektionsreisen durch verschiedene Regionen Chinas, waren nicht nur eine Feststellung, sondern vielmehr eine Bestätigung seines Glaubens an die transformative Kraft der Unruhe. Auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution hatte die weitreichende Mobilisierung der Massen das Land in tiefes Chaos gestürzt – ein Zustand, den er als vorteilhaft betrachtete.

Vor wenigen Wochen erlebte ich ein Déjà-vu. Die disruptiven Aktivitäten von Elon Musks „DOGE-Team“ junger Führungskräfte, die in den Vereinigten Staaten ganze Regierungsbehörden systematisch demontieren, um den sogenannten „Deep State“ – ein Konstrukt, das sowohl er als auch seine politischen Verbündeten verachten – zu zerschlagen, riefen in mir eine ferne, aber unbestreitbare Parallele zur Großen Proletarischen Kulturrevolution Maos hervor.

Mein erster Reflex war, eine Künstliche Intelligenz zu konsultieren. Diese warnte mich zwar vor allzu simplen Vergleichen, erkannte jedoch ebenfalls bemerkenswerte Ähnlichkeiten. Auch stehe ich mit dieser Wahrnehmung nicht allein. Zahlreiche aktuelle Publikationen ziehen Parallelen zwischen Musks Eingriffen in die US-Regierung und historischen Umwälzungen wie Maos Kulturrevolution. Analysten wie Orville Schell [1]John Feffer [2] und MacDonald [3] haben auf die weiterreichenden Implikationen dieser neuen Form techno-autoritärer Disruption hingewiesen.

Doch ist Elon Musks Kulturrevolution von oben keine Nachahmung chinesischer Radikalreformen. Vielmehr folgt sie einem klar westlichen Muster – einem, das erschreckende Ähnlichkeiten mit George Orwells dystopischer Vision in “1984” [4] aufweist, beginnend mit der Manipulation der Sprache selbst. Die Schaffung eines zeitgenössischen „Neusprech“ [5] und die Veränderung des politischen Diskurses sind Anzeichen einer tiefgreifenden Transformation – eine, die Orwells prophetische Warnungen erneut ins Bewusstsein rückt.

Wir Europäer könnten versucht sein, dieses Spektakel jenseits des Atlantiks als eine weitere amerikanische Eigenheit abzutun. Doch Selbstzufriedenheit wäre ein fataler Fehler. Dies ist kein isoliertes Ereignis. Es ist Teil einer größeren geopolitischen Verschiebung. Das Ziel ist nichts Geringeres als ein umfassender globaler Reset – eine Agenda, die von Donald Trump selbst vorangetrieben wird.

Diese Behauptung ist wiederum keineswegs nur meine eigene Spekulation. Eine Reihe aktueller Publikationen stützt diese Annahme. Alastair Crooke argumentiert in Eurasia Review in seinem Artikel [6] „Europe Faces a MAGA ‘Vibe-Shift’ as Trump Moves to His Primordial Objective: The Global Reset“, dass Trumps Bemühen, eine rasche Lösung des Ukraine-Konflikts herbeizuführen – angeblich zur Normalisierung der Beziehungen zu Russland – in Wahrheit ein Vorbote einer umfassenden geopolitischen Neuordnung sei. Crooke zeichnet ein düsteres Bild der Zukunft Europas und seiner Führer, die seiner Ansicht nach die Tragweite der aktuellen Entwicklungen nicht erfassen.

Ähnlich beschreibt Hal Brands [7] in seinem Foreign Affairs-Artikel „The Renegade Order“ [8] die US-amerikanische Weltanschauung – eine Sichtweise, die auf den ersten Blick rational und kohärent erscheint. Doch bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die Realität dafür erheblich zurechtgebogen wurde, um eine bestimmte Botschaft zu untermauern.

Es offenbart sich eine Kontinuität der Doktrin aus dem 19. Jahrhundert, die unter dem Begriff Manifest Destiny bekannt wurde, geprägt durch den Journalisten John O’Sullivan. Die Vorstellung, dass Trump diese expansionistische Mission lediglich weiterverfolgt, wird nicht hinterfragt – sie wird vielmehr bewundert. Einzig die Sorge, dass er damit scheitern könnte, sorgt bei Brands für Unbehagen.

Doch welche Rolle spielt Europa in diesem Konzept? Die Antwort ist eindeutig: Wir sollen dieser Mission dienen. Falls Europa sich weigert, diesem amerikanischen Konzept zu folgen, könnten die Konsequenzen drastisch ausfallen. Martin Wolf, Chefkommentator für Wirtschaft bei der Financial Times, warnt deutlich [9]: „Europa wird entweder die Herausforderung annehmen oder zerfallen. Die Europäer müssen eine weit stärker kooperieren, einen robusten Rahmen liberaler und demokratischer Normen schaffen. Falls sie dies nicht tun, werden sie zwischen den großen Mächten der Welt zerrieben.“

Wolf unterliegt jedoch einer Wunschvorstellung, wenn er fordert, Europa müsse die Ukraine vor einer angeblichen US-russischen Verschwörung retten – als ob Europa bereits für eine solche Aufgabe gewappnet wäre.

Tatsächlich verfolgt die USA keine reine Pro-Russland- oder Pro-Ukraine-Politik Ihre strategischen Interessen liegen woanders. Washingtons Handlungen zielen darauf ab, sowohl Russland als auch Europa zu schwächen und so die eigene Dominanz über Eurasien zu erhalten beziehungsweise zu festigen. Dies ist ein klassisches Beispiel für Offshore Balancing, eine Strategie, die ebenso gegen China im sogenannten Indo-Pazifik angewendet wird. Darauf weist der chinesische Akademiker Han Heyuan hin [10], indem er sich auf die Arbeit des britischen Geopolitik-Strategen Halford Mackinder bezieht. In seiner 1904 veröffentlichten Arbeit „The Geographical Pivot of History“ [11] argumentierte Mackinder, dass die Verhinderung der Vorherrschaft einer einzigen Macht auf dem eurasischen Kontinent stets das zentrale strategische Ziel der angelsächsischen Seemächte gewesen sei. Die USA hätten danach dieses Erbe schlicht vom Britischen Empire übernommen.

Heyuan betont auch eine unbequeme Wahrheit: Im anhaltenden Ukraine-Konflikt gibt es nur einen eindeutigen Gewinner – die Vereinigten Staaten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind hierfür bezeichnend. Der Krieg hat eine Umstrukturierung globaler Lieferketten erzwungen, wobei die USA als größter Profiteur aus Europas Energiekrise hervorgehen. Im Jahr 2022 stiegen die EU-Importe von amerikanischem Flüssigerdgas (LNG) um 154 %, zu Preisen, die dreimal höher waren als jene für russisches Pipelinegas. Gleichzeitig florierte die US-Rüstungsindustrie, mit Konzernen wie Raytheon und Lockheed Martin, deren Aktienkurse um über 200 % anstiegen.

Der Internationale-Politik-Experte Timothy Hopper formuliert es noch deutlicher [12]: „Die Welt erlebt eine Renaissance des Großmachtrivalität und des Neokolonialismus – jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Europa ist nicht mehr die dominierende Kraft oder Kolonialmacht – es ist nun selbst das Ziel. Historisch spielte Europa eine zentrale Rolle in der Gestaltung globaler Politik und Ressourcenverteilung. Doch heute steht es im Kreuzfeuer rücksichtsloser geopolitischer Konkurrenz zwischen den USA, China und anderen aufstrebenden Mächten.

Und tatsächlich – unsere Führungseliten straucheln. Im Gegensatz zu Mao damals und Trump heute betrachten sie das Chaos in der Welt keineswegs als eine günstige Gelegenheit. Konfrontiert mit einer neuen Wirklichkeit, auf die sie nicht vorbereitet sind, wirken sie vielmehr ratlos. Ihre jahrzehntelang gehegten Annahmen über die globale Ordnung hat diese Realität innerhalb weniger Wochen zerstört.

Europa hat lange Zeit in der Illusion eigener Autonomie gelebt – eine Illusion, die vor allem durch die geschickte US-Außenpolitik aufrechterhalten wurde. Doch diese Illusion wird uns nun genommen. Unsere politischen Repräsentanten sind darauf nicht vorbereitet. Führungspersönlichkeiten wie Emmanuel Macron und Keir Starmer scheinen die tektonische Verschiebung in Washington, wo traditionelle Werte wieder dominieren, noch nicht ganz erfasst zu haben.

Unglücklicherweise ist diese neue Realität nämlich unvereinbar mit den Karriereplänen der bestehenden politischen Klasse in Europa. Wenn es hier also zu einem Wandel kommen sollte, wird er nicht von oben kommen. Stattdessen muss er von unten kommen.

Gerne zitiere ich hier eine Erkenntnis, die Newton-John, ein Schriftsteller aus Down Under, kürzlich gewonnen hat, nachdem er sich der respektablen Herausforderung gestellt hatte, 100 Geschichtsbücher zu lesen: „Plötzlich wurde mir klar, dass die Insel des Friedens und des Wohlstands, auf der ich mein privilegiertes Leben lang wohnte, genau das war“, schreibt er, „eine Insel, auf allen Seiten von einem Abgrund aus Gewalt, Aufruhr und Grausamkeit umgeben“. Diese kleine und zerbrechliche Insel darf nicht erneut von den tosenden Fluten des stürmischen Meeres, das sie umgibt, überspült werden.

Da also in den höheren Etagen unserer Gesellschaft keine der jetzt wünschenswerten Heilsbringer zu finden sind, sollten wir Europäer nicht länger auf ein Wunder warten. Es ist an der Zeit, unser Schicksal in unsere eigenen Hände zu nehmen. So wunderschöne Deklarationen wie „Wir, das Volk“ und „Das Volk ist der Souverän“ müssen mehr sein als schöne Rhetorik. Sie müssen zu einer Aufforderung zum Handeln für jeden Einzelnen werden – eine Aufforderung, die nicht nur auf unserem Kontinent, sondern auf dem gesamten Planeten widerhallen muss.

Zeit ist gekommen, unsere Zukunft selbst zu gestalten jeder von uns: Du, ich, wir alle.

 


[1] Schell, O. (2025, February 19). Trump’s cultural revolution. Project Syndicate. (https://www.project-syndicate.org/commentary/donald-trump-mao-zedong-cultural-revolution-parallels-by-orville-schell-2025-02)

  • Orville Schell zieht Parallelen zwischen dem jüngsten politischen Kurswechsel von Präsident Donald Trump und der Kulturrevolution von Mao Zedong und weist auf mögliche Auswirkungen auf die Außenpolitik der USA hin.

[2] Feffer, J. (2025, February 20). The Trump-Musk cultural revolution. Eurasia Review. (https://www.eurasiareview.com/20022025-the-trump-musk-cultural-revolution-oped/)

  • John Feffer diskutiert die Allianz zwischen Präsident Trump und Elon Musk, vergleicht ihr Handeln mit Maos Kulturrevolution und untersucht die möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen.

[3] MacDonald, L. (2025, March 12). Understanding Trump as Mao. Medium. (https://medium.com/@ClimateBoomer/understanding-trump-as-mao-d17c6a85f657​)

  • In diesem Artikel zieht Lawrence MacDonald Parallelen zwischen Donald Trump und Mao Zedong und untersucht die Ähnlichkeiten in ihren Führungsstilen und die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Politik. MacDonald, der seine Erfahrungen als ehemaliger Auslandskorrespondent in China nutzt, gibt Einblicke in die Art und Weise, wie beide Führer etablierte Normen und Institutionen aufbrachen, um ihre Macht zu festigen. Der Beitrag geht auch auf die anti-intellektuellen Einstellungen beider Persönlichkeiten und die Folgen solcher Haltungen für Staat und Gesellschaft ein. ​

[4] Orwell, G. (1949). 1984. Secker & Warburg.

  • George Orwells dystopischer Roman schildert eine totalitäre Gesellschaft unter ständiger Überwachung, in der die Wahrheit manipuliert wird, um die Macht zu erhalten. Die Erzählung dient als abschreckendes Beispiel für die Gefahren repressiver Regime und die Aushöhlung individueller Freiheiten und ist nach wie vor relevant für Diskussionen über Privatsphäre, Freiheit und staatliche Übervorteilung.

[5] Burnett, I. S. (2025, March 18). Operation Newspeak. CounterPunch. (https://www.counterpunch.org/2025/03/18/operation-newspeak/)

  • Ipek S. Burnett untersucht die Manipulation der Sprache durch die Trump-Administration und zieht Parallelen zu George Orwells Konzept des „Newspeak“ in 1984 sowie zu dessen Auswirkungen auf kritisches Denken und Dissens.

[6] Crooke, A. (2025, March 12). Europe faces a MAGA ‚vibe-shift‘ as Trump moves to his primordial objective: The global reset. Eurasia Review. (https://www.eurasiareview.com/12032025-europe-faces-a-maga-vibe-shift-as-trump-moves-to-his-primordial-objective-the-global-reset-oped/)

  • Alastair Crooke erörtert die geopolitischen Auswirkungen der Maßnahmen von Präsident Trump zur Beilegung des Ukraine-Konflikts und zur Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Er untersucht, inwiefern diese Schritte Teil einer umfassenderen Strategie zur Schaffung einer neuen Weltordnung sind, die Europa dazu veranlasst, sich an diese bedeutende geopolitische Veränderung anzupassen.​

[7] Brands, H. (n.d.). Author profile. Foreign Affairs. (https://www.foreignaffairs.com/authors/hal-brands)

  • Hier ist das Autorenprofil von Hal Brands auf Foreign Affairs, in dem er seinen Hintergrund als Henry A. Kissinger Distinguished Professor of Global Affairs an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies und seine Beiträge zu diesem Thema beschreibt.

[8] Brands, H. (2025, February 25). The renegade order: How Trump wields American power. Foreign Affairs. (https://www.foreignaffairs.com/united-states/renegade-order-trump-hal-brands)

  • Hal Brands analysiert den unkonventionellen Ansatz von Präsident Trump in den internationalen Beziehungen und seine möglichen Auswirkungen auf die globale Ordnung. The Renegade Order, How Trump Wields American Power, Hal Brands, März/April 2025, veröffentlicht am 25. Februar 2025.

[9] Wolf, M. (2025, February 25). The US is now the enemy of the West. Financial Times.

  • Martin Wolf argumentiert, dass die jüngsten außenpolitischen Entscheidungen der USA, einschließlich der Aufgabe der Ukraine, das Land zu einem Gegner westlicher Interessen machen.

[10] Heyuan, H. (2025, March 12). Weaken and control: The US strategy for Eurasia and China ThinkChina. (https://www.thinkchina.sg/politics/weaken-and-control-us-strategy-eurasia-and-china)

  • Dieser Artikel befasst sich mit der Strategie der USA, sowohl Russland als auch Europa zu schwächen, um ihren Einfluss auf Eurasien und China zu wahren.

[11] Mackinder, H. J. (1904). The geographical pivot of history. The Geographical Journal, 23(4), 421–437.

  • In diesem bahnbrechenden Werk stellt der britische Geograf Halford John Mackinder die Heartland-Theorie vor, die besagt, dass die zentrale Region Eurasiens (das „Heartland“) aufgrund ihrer strategischen und ressourcenreichen Lage der Schlüssel zur globalen Vorherrschaft ist. Diese Arbeit hat das geopolitische Denken und die Politik im 20. Jahrhundert nachhaltig beeinflusst.

[12] Hopper, T. (2025, March 17). Trump and the return to economic colonialism: Coercive diplomacy as a new tool. Eurasia Review. (https://www.eurasiareview.com/17032025-trump-and-the-return-to-economic-colonialism-coercive-diplomacy-as-a-new-tool-oped/)

  • Timothy Hopper erörtert Präsident Trumps Taktik der Zwangsdiplomatie und ihre Ähnlichkeit mit dem historischen Wirtschaftskolonialismus, wobei er sich auf den jüngsten Umgang mit europäischen Staaten konzentriert.
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Ich bin bin in (Ost-) Berlin geboren. Noch im letzten Augenblick konnten meine Eltern mit mir den Westteil der Stadt und von dort Norddeutschland erreichen. Ich habe Chemie, Informatik, Orientalistik und Volkswirtschaftslehre studiert. Heute bin ich als Interim Manager, Unternehmensberater, Buchautor und Dozent tätig.

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